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Futuristisches Fahrzeugcockpit mit großem zentralem Display

Neue Innenwelten

16.12.2025

Wie das E-Auto den Fahrzeugraum neu erfindet und warum die eigentliche Revolution moderner Mobilität jetzt erst beginnt.

Lesedauer: 5 Minuten

Wer sich im Herbst auf internationalen Autoausstellungen umsah, merkte schnell: Die Revolution des Autos findet heute innen statt. Während der Antrieb lautlos wird, rückt der Innenraum ins Zentrum der Innovationskraft. Hersteller sprechen längst nicht mehr vom Cockpit, sondern vom „dritten Lebensraum“.

Das Elektroauto wird zur Lounge, zum Rückzugsort, zum mobilen Büro und damit zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Trends: Nachhaltigkeit, digitale Selbstverständlichkeit, Stressreduktion.

Der Begriff von Mobilität erfährt somit ein neues Verständnis, denn mit dem Wegfall des Motors öffnet sich der Innenraum für ganz andere Materialien, digitale Bedienlogiken und Komfortkonzepte, die vor allem auf Narration und Nutzererlebnis ausgelegt sind. Die grundlegende Veränderung beginnt dort, wo früher ein massiver Mitteltunnel durch das Auto verlief. Elektrofahrzeuge benötigen ihn nicht mehr. Für Franziska Braun, im Team „Innovation Design“ am Fraunhofer Institut, ist das der Ausgangspunkt eines neuen Innenraumdenkens: „Es entsteht ein flacher, ebenmäßiger Boden. Das schafft mehr Platz, ermöglicht flexible Sitzanordnungen und erhöht Komfort durch zusätzliche Beinfreiheit und Stauraum.“ Diese neu gewonnene Fläche macht den Innenraum modularer, wohnlicher und offener als jede Generation vor dem Elektrozeitalter.

„Nachhaltigkeit ist längst mehr als ein Marketing-Schlagwort.“

Franziska Braun

Ganzheitliche Klima-Konzepte

Doch mit der neuen Ruhe kommen neue Anforderungen. Das E-Auto fährt zwar ohne Motorgeräusche, aber „Fahrgeräusche wie Reifen-, Wind- und Umgebungsgeräusche treten stärker in den Vordergrund“, sagt Braun. Hersteller reagieren mit schallabsorbierenden Materialien und akustischen Konzepten, die früher nur Spezialisten interessierten.

Besonders sichtbar wird der Wandel beim Thermomanagement. Verbrenner heizen nebenbei, Elektroautos müssen jeden Grad Temperatur zusätzlich erzeugen. „Ohne Motorabwärme sind aktive Heiz- und Kühlsysteme erforderlich, die möglichst energieeffizient arbeiten“, erklärt Braun. Zentrale Trends wie zonale Klimatisierung, zusätzliche Dämmung und in den Sitz integrierte Wärmequellen gehören inzwischen zum Standard der Entwicklung.

Braun verweist auf Studien ihres Teams, in denen farbige LED-Lichtzonen genutzt wurden, um das Wärmeempfinden der Passagiere zu beeinflussen. „Mit gezielter Beleuchtung lassen sich Temperaturdifferenzen von 1 bis 1,5 Grad überblenden.“ Was nach einem psychologischen Trick klingt, hat konkrete Auswirkungen: weniger Heizleistung, längere Reichweite.

Konventionelle Autos kennen eine zentrale Klimasteuerung, warm oder kalt, vorne oder hinten. Elektroautos lösen diese Ordnung auf. Braun beschreibt die Zukunft als personalisierte Komfortlandschaft: Heiz- und Kühlzonen in Sitzen, Armlehnen oder Oberflächen, Strahlungswärme statt Luftstrom, KI-gesteuerte Anpassungen in Echtzeit.

„Zonale Konzepte führen zu einer stärkeren Integration von Funktionen in Oberflächen und zu einer Reduktion zentraler Bedienelemente“, sagt Braun. Plane Flächen, die gleichzeitig wärmen, wirken und wahrgenommen werden, ersetzen sichtbare Technik. Komfort wird leiser, individueller und energieoptimierter.

Die Bedienung wird neu gedacht

Futuristisches Cockpit mit großem Display-Armaturenbrett
Foto: picture alliance / imageBROKER | Ingo Schulz

Die Digitalisierung verändert die Innenraumlogik ähnlich stark wie die Elektrifizierung. Das Auto wird zur Plattform für personalisierte Interaktion. „Die Frage, wie eine Bedienoberfläche intuitiv gestaltet werden kann, lässt sich nie endgültig beantworten“, sagt Braun. Immer neue Funktionen, Fahrerassistenzsysteme und KI steigern den Anspruch an Klarheit.

Aktuelle Forschungsansätze setzen auf Smart Surfaces, Oberflächen, die nur dann sichtbare Knöpfe oder Touchzonen zeigen, wenn sie gebraucht werden. Brauns Team hat im Projekt „Cyclometric“ leitfähige Garne verwebt, sodass Bedienelemente optisch verschwinden. Dies bedeutet also, dass Produkte nicht nur zirkulär gedacht, sondern tatsächlich zirkulär durchgerechnet werden. Ein Autohersteller weiß dadurch schon beim Design, wie jedes einzelne Gramm Material eines Bauteils in den Kreislauf zurückgeführt wird. Gleichzeitig erlebe das Haptische ein Comeback: „Für sicherheitsrelevante Funktionen kehren physische Knöpfe zurück“, erklärt Braun. Nutzer wollten dort blind zugreifen können.

Experten aus der Industrie bestätigen diese Entwicklung. Rolls Royce Designchef Domagoj Dukec erklärt beispielsweise, dass reine Touch-Konzepte schnell an ihre Grenzen stoßen und gute Haptik „ein unverzichtbares Element der Markenerfahrung“ bleibt. Das E-Auto ist damit nicht nur ein digitaler Lebensraum, sondern auch ein Ort, an dem Menschen auch ihre Umgebung erfühlen wollen.

Gleichzeitig wächst die Rolle der Sprachsteuerung, die mit lernfähigen Assistenten immer natürlicher wird. Die Bedienung im E-Auto richtet sich künftig stärker nach dem jeweiligen Szenario: Autobahnfahrt, Stau, Stadtverkehr, automatisiertes Rollen, jeweils mit unterschiedlichen Interface-Prioritäten.

Kaum ein Bereich jedoch steht so im Fokus wie nachhaltige Materialien. Für Braun ist klar: „Nachhaltigkeit ist längst mehr als ein Marketing-Schlagwort.“ Tatsächlich halten recycelte Kunststoffe, Meeres-PET-Garne und Naturfasern wie Flachs oder Bambus Einzug in Serienfahrzeuge. In Projekten wie „Future Flex Pro“ arbeitet ihr Team an Faserverbundbauteilen aus Naturmaterialien, sodass - kombiniert mit leitfähigen Garnen -  Elektronik reduziert werden kann.

Mit Pilzstrukturen zur Lederalternative

Ingenieure arbeiten gemeinsam an industrieller Robotertechnik
Foto: Open Hybrid LabFactory

Das Fraunhofer Institut steht mit dieser Entwicklung nicht allein. Auch die Autoindustrie selbst zieht nach. Dr. Martina Gottschling von Volkswagen Group Innovation sieht darin eine große Chance: „Das Potenzial ist groß und kann einer der nächsten Schritte sein, um den ökologischen Fußabdruck unserer ID-Elektroflotte weiter zu optimieren.“

Gemeinsam mit der Open Hybrid LabFactory forscht VW an Lederalternativen aus Zellulose und Pilzstrukturen, also völlig tierfreien Materialien, die dennoch den Qualitätsanspruch an ein Fahrzeug erfüllen sollen. Ihre Forschung in der Open Hybrid LabFactory zeigt, wie Lederalternativen aus Zellulose oder Pilzmyzel echte Tierhaut ersetzen könnten, mit dem Ziel, kreislauffähige Innenräume zu entwickeln, die weder Komfort noch Qualität verlieren.

Noch deutlicher wird der Chemiekonzern Evonik, dessen Spezialkunststoffe weltweit in der Automobilindustrie eingesetzt werden. Dr. Patrick Glöckner, Leiter des Circular-Economy-Programms, erklärt: „Es braucht von Anfang an das richtige Design – Design for Circularity.“ Damit ist gemeint, dass das Gestaltungskonzept aller Produkte von Beginn an so gestaltet sein muss, dass sie dauerhaft im Materialkreislauf bleiben, ohne je zu Abfall zu werden. Diese externen Stimmen verdeutlichen, dass Nachhaltigkeit längst nicht nur ein Forschungsthema ist. Sie rückt ins Zentrum industrieller Wertschöpfung.

Komfort, Klima und zonale Intelligenz

Mit Wärmepumpen, leitfähigen Textilien und KI-gestützten Klimasystemen verändern sich die Komfortlogiken im Fahrzeug. Braun beschreibt, wie Hersteller zunehmend auf personalisierte Komfortzonen setzen: beheizbare Armlehnen, kühlbare Sitzflächen, unsichtbar integrierte Strahlungswärme. Wärmepumpen bringen allerdings zusätzliche Komponenten mit sich, die in der Innenraumarchitektur bedacht werden müssen.

Der klassische Klimaknopf könnte bald verschwinden, nicht zugunsten eines Menüs, sondern automatischer, prädiktiver Systeme, die den Nutzer bereits erkennen, bevor er eingreift.

Mit jeder neuen Assistenzstufe verschiebt sich der Fokus vom Fahren zum Nutzungserlebnis. Hersteller planen bereits mit Sitz-Schlafpositionen, Entertainment-Screens und integrierten Arbeitsplätzen. In zukünftigen Level-4-Fahrzeugen könnten Menschen meditieren, arbeiten oder schlafen, statt sich auf den Verkehr konzentrieren zu müssen.

Das Auto wird zum psychophysiologischen Raum

Rotes Ambientelicht im Mercedes-Innenraum
Foto: picture alliance | Eibner-Pressefoto

Die Rolle des Lichts wird hier noch wichtiger. In Brauns Projekt „Lightride“ wurden unterschiedliche Lichtstimulationen mit Atemtechniken kombiniert, um Stress während der Fahrt zu reduzieren. Erste Ergebnisse zeigen, dass Licht gezielt zur Konzentration oder Entspannung beitragen kann. Das Auto wird damit, zumindest teilweise, zum psychophysiologischen Raum. Die elektrische Antriebsrevolution ist im Innenraum angekommen. E-Autos verändern nicht nur Materialien, Platzverhältnisse und Bedienabläufe, sondern auch die Erwartungen an Komfort, Nachhaltigkeit und Nutzererlebnis.

Franziska Braun zeigt, wie die Forschung diese Bereiche zusammenführt: durch smarte Textilien, kreislauforientiertes Design, zonale Klimasteuerung und lichtbasierte Komfortstrategien.

Der Innenraum des Elektroautos ist kein Nebenschauplatz, sondern das eigentliche Zentrum der Transformation. Raumarchitektur, Akustik, Materialien und Komfortsysteme werden neu definiert. Sie bilden zusammen ein Ökosystem, das weit mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Automobilindustrie steht am Beginn einer Innenraumrevolution, die nachhaltiger, digitaler und intuitiver ist als jede Generation zuvor.

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