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„Deutschland ist hoch innovativ“

17.01.2025

Wie geht es uns zu Beginn des Jahres? Im GATEWAY-Interview benennt Michael Söding gute Gründe dafür, optimistisch zu bleiben – ohne die Augen vor der Realität zu verschließen.

Michael Söding
Michael Söding leitete den Geschäftsbereich Automotive Aftermarket in der Schaeffler AG und ist seit 2021 Senior Advisor Aftermarket

Die Automotive-Branche schaut nicht besonders positiv auf das Jahr 2024 zurück. Wie nehmen Sie die Stimmung wahr?

Ich habe den Eindruck, dass die Stimmung momentan schlechter als die Lage ist. Ich spreche oft mit Menschen außerhalb von Deutschland. In Mexiko beispielsweise toben Drogenkriege und Flüchtlingsströme ziehen quer durchs Land. Es gibt dort Erdbeben und Vulkanausbrüche. Kommt eine Krise, wie Corona oder politischer Stillstand, hinzu, dann ist das einfach eine Krise mehr, von der sich die Menschen im Land aber nicht grundsätzlich die Stimmung verderben lassen.

Auch die Industrie sieht den Standort Deutschland in Gefahr.

Die Diskussion hat eine gewisse Eigendynamik, die von vielen Unternehmen befeuert wird, aus Sorge, zu spät in mögliche Kurskorrekturen einzusteigen. Bei diesem Szenario werden jetzt alle Themen, die virulent sind, gleichzeitig diskutiert. Manche verlieren dabei die Nerven.

Welche Themen brennen den Unternehmen unter den Nägeln?

Die Themen sind lange bekannt. Die USA haben gewählt und darauf hätte man sich vorbereiten können. Seit fünf Jahren ist bekannt, dass die CO₂-Besteuerung zum Jahreswechsel signifikant steigt und gleichzeitig die zulässigen Grenzwerte für den Flottenverbrauch reduziert werden müssen. Seit zehn Jahren wissen wir, dass wir Stromtrassen benötigen, die grünen Strom in die südlichen Landesteile bringen. Und über Bürokratieabbau und Infrastruktur sprechen wir seit dem letzten Jahrhundert. Geschehen ist nicht viel. Jetzt läuft uns die Zeit davon.

Stichwort VW: Der Konzern ist nicht mehr so konkurrenzfähig wie früher. Und China scheint ein großes Problem zu sein.

Das gilt für alle Automobilhersteller. China ist nicht nur der größte, sondern seit Langem auch der profitabelste Markt. Die Gehälter in Deutschland sind jedoch nicht marktgerecht und werden durch Gewinne aus anderen Märkten quersubventioniert. Hinzu kommt die neue Konkurrenz von innovativeren Herstellern in den USA und China. Noch vor zehn Jahren haben wir gesagt, dass sie uns nur kopieren, vor fünf Jahren, dass sie nur minderwertige Produkte herstellen. Doch wer das Land kennt, weiß, dass das schon lange nicht mehr stimmt. Heute verfügen die Chinesen über attraktivere Produkte, die nicht nur für die chinesischen Kunden, sondern auch für viele Europäer interessant sind.

Also teilen Sie den Vorwurf der Innovationsschwäche bei den deutschen Herstellern?

Betrachten wir einmal die Elektrostrategie bei VW, Mercedes und BMW: VW hat nach dem Dieselskandal eine Vollbremsung vollzogen. Jetzt heißt der Golf nicht mehr Golf, sondern ID.3, ID.4 oder ID.5. Eine Markenikone wurde quasi in die Tonne getreten. Die Autos sind in einer Weise designt, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Da muss man Experte sein, um sie auseinanderhalten zu können. Und dann folgten technologische Schwierigkeiten wie schlecht funktionierende Infotainmentsysteme und unbeleuchtete Bedienelemente am Touchscreen.

Und was haben die anderen besser gemacht?

BMW hat sich dafür entschieden, Elektromotoren in die vorhandenen Fahrzeuge auf den gleichen Produktionsstraßen einzubauen. Dann ist es nahezu gleichgültig, ob der Markt Benziner, Diesel, Hybrid- oder E-Autos verlangt oder ob die Bestellung aus Europa oder von einem anderen Kontinent stammt; BMW ist immer handlungsfähig. Dabei gehen zwar einige Vorteile verloren, die man bei einer angepassten Elektroproduktion hätte, aber die anderen Unwägbarkeiten sind riskanter. BMW spricht eine ältere, konservative Zielgruppe an, die sich nicht groß umstellen will. Dagegen hat Mercedes bei den Elektromodellen überzogen. Wenn ich etwa Neuwagenkäufer in Europa oder der Türkei beobachte, sehe ich, dass sie sich einen EQS nicht in größeren Mengen andrehen lassen.

Wie entwickelt sich der Markt für die Zulieferer?

Er schrumpft in Europa. Durch Corona und die Gas-Mangellage hat der europäische Markt nachhaltig zwei Millionen produzierter Autos verloren, von 17,7 Millionen im Jahr 2019 ist die Zahl auf 15,3 Millionen im Jahr 2023 zurückgegangen. Für die Zulieferer ist das schwierig, weil sie noch die Kapazitäten für die großen Volumina dastehen haben, die jetzt nicht ausgelastet sind – und gleichzeitig schon Kapazitäten für die neuen Technologien aufgebaut haben. Mit enormen Investitionen, die sich jetzt nicht amortisieren. Denn unverändert verdient man Geld mit den alten und verbrennt sie mit den neuen Technologien. Da der Verbrenner ausläuft und es bald nur noch Elektrofahrzeuge gibt, müssen sich jetzt viele Player etwas einfallen lassen, wenn sie weiterhin in der Automobilzulieferindustrie bleiben wollen.

Die weltweiten Zahlen zeigen: In Europa ist ein Einbruch da, aber sonst auf der Welt erholt es sich. Im Jahr 2019 war die weltweite Automobil- und Zulieferindustrie auf 91 Millionen Autos im Jahr vorbereitet, 2020 lag die Produktion bei nur 77 Millionen. 2023 wurden mit 93 Millionen wieder mehr Autos produziert als vor Corona. Das zeigt doch, dass es geht.

Sind alle gleichermaßen betroffen?

Wenn eine Firma Dichtungen für Zylinderköpfe herstellt, bedeutet das, dass sie sich umorientieren muss, weil es bald keiner Zylinderköpfe mehr bedarf. Also schwenken Firmen um, entwickeln etwas für Brennstoffzellen, vielleicht Stacks –, und wenn das dann nicht kommt, dann sieht es für sie schlecht aus. Für ein Unternehmen, das sich mit Fahrzeugelektronik oder Reifen beschäftigt, ergibt es keinen großen Unterschied, ob es Verbrenner oder E-Autos bestückt.

„Die deutschen Hersteller wollen alles gleichzeitig – und verzetteln sich regelmäßig.“

Die chinesischen Hersteller verfügen oft über mehr Fertigungstiefe: Ein Anbieter baut die Batterien für die Fahrzeuge selbst und gibt das nicht außer Haus. Ist perspektivisch die Vielfalt der Zulieferer bedroht?

Wir müssen bei uns und in Europa die Industriepolitik, wie sie China und Südkorea über viele Jahrzehnte gemacht haben, verstehen. Südkorea hat auf wenige Industrien gesetzt wie Stahl, schwere Schiffe, Halbleiter und Automobilbau. Dann haben sie diese Bereiche quer durch alle politischen Ebenen gefördert. Und was machen wir? Wir schießen in alle Richtungen und verzetteln uns regelmäßig. Es gibt da den politischen Begriff der Technologieoffenheit. Was wollen wir denn damit sagen? Wir können doch nicht alles gleichzeitig subventionieren und nicht für alles die nötige Infrastruktur bereitstellen. Für mich klingt das nach einer eklatanten Entscheidungsschwäche.

Ist Mobilität heute nicht viel umfassender, die sich vom eigenen Wagen ablöst in Richtung geteilter Lösungen? Die Frage ist doch: Mit welchem Mobilitätsträger bekomme ich einen Kilometer mit dem kleinsten ökologischen Fußabdruck und den geringsten Kosten hin?

Na ja, laut dem Kraftfahrtbundesamt ist der Fahrzeugbestand in Deutschland so groß wie nie. Seit fünf Jahren werden zwar weniger Neuwagen verkauft, dafür werden die alten deutlich länger gefahren. Das ist gut für den Aftermarket, weil der Reparaturbedarf ständig steigt. Spätestens seit Corona wollen die Menschen über ein verlässliches Fahrzeug verfügen.

Aber die neuen Mobilitätsangebote werden auch angenommen!

Ja, auch Autobesitzer wollen einen sicheren Radweg und eine funktionierende S-Bahn haben. Sie wollen die Wahl haben, entscheiden oft nach dem Preis oder dem Wetter. Alle sind im Homeoffice und trotzdem sind die Straßen voll. Die Leute machen offensichtlich immer mehr Kurzurlaube. In Deutschland kritisiert man gegenwärtig die Bahn und den ÖPNV wegen der Unpünktlichkeit, des Schienennetzes usw. Doch die absoluten Fahrgastzahlen waren noch nie so hoch wie jetzt.

Vielfach wird vor allem den deutschen Herstellern Innovationsschwäche attestiert.

Sicher ist, dass unser Markt Innovationen extrem positiv aufnimmt. Und das wird auch für das autonome Fahren gelten. Jede Erleichterung beim Autofahren wird doch schon heute genutzt. Der Scheibenwischer, das Tagfahr- oder Fernlicht gehen von allein an. Schalten muss man schon lange nicht mehr. Die Freisprechanlage im Auto nutzen wir auch. Ich behaupte, dass es sehr schnell geht, dass diese graduellen Fortschritte genutzt werden – schnell eine E-Mail absetzen und WhatsApp checken –, und so kommt dann das autonome Fahren, ohne dass wir es richtig merken.

Und wird bezüglich der angeblichen deutschen Softwareschwäche auch übertrieben?

Na ja, wer mit einem weißen Blatt Papier anfängt wie Tesla, hat es einfacher als jemand, der sich in einer gewachsenen Infrastruktur bewegt. In einem modernen Fahrzeug stecken 80 Computer, die alle miteinander kommunizieren müssen. Wir haben eine gewachsene Zulieferstruktur mit beachtlichen Kompetenzen. Die Firma mit der Fahrwerkskompetenz hat eine Electronic Control-Unit mit allen Daten, die mit dem Fahrwerk zu tun haben, genauso der Dieselmotorspezialist. Tesla hat das vom ersten Tag an umgedreht und gesagt, wir haben den Rechner und den Quellcode, der Zulieferer gibt uns die Parameter und wir programmieren das selbst. Traue ich der deutschen Industrie zu, so zu denken? Natürlich. Aber der Umbau, der stattfinden muss, bedeutet, dass der Kompetenzträger plötzlich nur noch eine verlängerte Werkbank ist, das ist eine ganz andere Hausnummer.

Verdient man mit Softwareprodukten überhaupt noch etwas?

Als Apple die App Store-Plattform etablierte, verstand erst niemand, was sie damit wollen. Mittlerweile ist das deren Cashcow. Wir denken auch, dass Google kostenlos ist. Womit sie ihr Geld verdienen, bekommt der Verbraucher nicht mit. Das findet an ganz anderen Stellen statt. Um die Frage zu beantworten, ob da etwas zu verdienen ist, muss man den Blick auf das Ökosystem richten. Und nicht nur auf ein paar Zeilen Quellcode oder eine Hardware.

Also ist noch nichts verloren?

Der Standort Deutschland war und ist hoch innovativ. Vieles von dem, was in Apple und Tesla verbaut ist, wird in Deutschland entwickelt und hergestellt. Deutschland hat eine Schwäche dahingehend, Massenmärkte zu erschaffen. Wir haben Technologien wie MP3 und VHS erfunden, aber diese zur Marktreife zu bringen und millionen- bis milliardenfach in der Welt zu verteilen, das bekommen wir nicht hin. Wir sind eher hoch innovativ, gründen kleine mittelständische Unternehmen und beschäftigen Vertriebsingenieure, die spezialisierte Produkte weltweit an den Mann bringen.

Und in der Automotive-Branche?

Ich bin nicht so skeptisch, weil sie sehr früh international war. Ich erlebe nicht, dass sich die deutschen Automobilhersteller allein auf deutsche Zulieferer verlassen oder nur in deutschen Lösungen denken. Sie haben schon immer verstanden, dass es das Weltauto nicht gibt, dass Fahrzeuge angepasst werden müssen. Sorgen müssen wir uns darum, ob es noch genug Wachstum gibt, um alles, was ansteht, zu finanzieren. Wir müssen uns als Land klarmachen, dass wir nicht mehr die Größten sind und alles gleichzeitig machen können, auch wenn wir das intellektuell vielleicht durchdringen – dazu fehlt uns die Durchschlagskraft. Da müssen wir selbst in der europäischen Dimension denken und sagen, wofür wir genau antreten.

„Sicher ist, dass unser Markt Innovationen extrem positiv aufnimmt. Es gab am Auto keine Neuerung, die nicht akzeptiert wurde.“