Ein Leitmarkt entsteht
China hat in nur 20 Jahren einen großen Teil seines Verkehrs elektrifiziert und eine mächtige NEV (New Energy Vehicle)-Industrie aufgebaut. Heute werden weltweit sechs von zehn Elektroautos in China produziert. In China selbst werden 2024 voraussichtlich 45 Prozent der Autoverkäufe NEV sein. NEV bedeutet nicht nur „Elektro“ (BEV und PHEV, also batterieelektrische und Plug-in-Hybrid-Fahrzeuge), in die Kategorie gehören auch Fuel Cell Electric Vehicles (FCEV). elektrische Brennstoffzellenautos. Eine weitere geförderte Kategorie sind ICVs, Intelligent and Connected Vehicles, für die der NEV-Entwicklungsplan bis 2035 Ziele formuliert, die mit dem Ausbau der 5G-Netze einhergehen. Durch die Priorisierung von neuen Technologien ist es China gelungen, Entwicklungsstufen zu überspringen („leapfrogging“), statt den etablierten Produzenten bei den Verbrennungsmotoren nachzueifern („catching up“). Durch Pilotprojekte, Kaufanreizprogramme und Subventionen ist es gelungen, einen Leitmarkt für Elektromobilität zu entwickeln und zusätzlich Wertschöpfungsketten im Batteriemarkt aufzubauen. Neben der Reduzierung von Emissionen war es auch ein Ziel, die Abhängigkeit von Ölimporten zu verringern. Zudem soll der Strom für die E-Autos grün werden: Die 2022 in einem Fünfjahresplan für erneuerbare Energien formulierten Vorgaben werden nach und nach umgesetzt. Bis 2025 soll der Anteil an Erneuerbaren auf 33 Prozent steigen. Jeder zweite Dollar, der in der Welt in erneuerbare Energien investiert wird, wird in China investiert.
Förderungen und Entwicklung der Industrie
Die Orientierung hin zur E-Mobilität begann 2001 mit ersten Investitionen in Forschung und Entwicklung im Rahmen des „Nationalen Programms zur Entwicklung von Hochtechnologie“, auf die eine Reihe von Plänen und Programmen folgte. Etwa das Pilotprogramm „10 Städte, 1000 Busse“ im Jahr 2009, das schließlich auf 25 Städte ausgeweitet wurde, oder die Makro-Strategie „Made in China 25“, die „Energieeinsparung und Elektromobilität“ als Schlüsselindustrie definiert. Auf den industriespezifischen Plan „Entwicklungsplan für die Energieeinsparung und die Neue-Energie-Fahrzeugindustrie“ von 2012 folgte 2020 der zweite Entwicklungsplan für die NEV-Industrie, der bis heute gilt. In diesen Plänen wurden kurz-, mittel- und langfristige Ziele für die Marktentwicklung, technologische Entwicklung und Infrastruktur festgelegt. Jüngste Zielsetzungen für die NEV-Industrie sind die Förderung von „hochwertiger Entwicklung“ und die Integration der NEV in das Stromnetz. Neben den „großen“ Zielvorgaben gibt es Programme und Initiativen der Lokalregierungen der Provinzen und in den Städten und Kommunen, die auch Subventionen vergeben. Der schnellen Entwicklung kam zugute, dass der Elektromotor eine vergleichbar einfache Technologie ist. Für die Herstellung eines Dieselmotors sind im Schnitt sechs Mitarbeiter notwendig, für einen Elektromotor ist es nur einer. Günstig war auch das Vorkommen vieler notwendiger Rohstoffe im eigenen Land. Aufbauend auf die bestehende Expertise in der Elektrotechnik ist China heute in der Batterietechnologie weltweit führend.
Ein weiterer Durchsetzungsfaktor für E-Mobilität in China: Die Neuzulassung von NEVs in Großstädten ist schneller und günstiger als bei Verbrennern, bei denen das lange dauern kann, weil die Nummernschilder in Städten wie Schanghai, Peking und Guangzhou über Auktionen oder Lotterien vergeben werden. Was ein NEV ist und was nicht, ist im Stadtbild gut sichtbar: Die NEV sind mit grünen Nummernschildern gekennzeichnet, die Verbrenner mit blauen.
Die Macht der 100 Firmen
Eine Konsolidierung des chinesischen Markts setzt gerade erst ein. Etwa 100 Unternehmen stellen E-Autos her, manche davon mehrere Marken, Geely beispielweise etwa 20. Die Top 10 der Unternehmen haben zusammen etwa 70 Prozent Marktanteil. Es besteht ein Mix aus Privatunternehmen wie BYD und staatlichen wie SAIC. Die Standorte liegen in wirtschaftlich starken, bevölkerungsreichen Regionen, klimatisch günstig und näher am Meer.
Auffällig ist der hohe Abstand, den das wie Tesla 2003 gegründete BYD Auto zu den anderen Herstellern hält. Die Gründe: BYD startete als Batteriehersteller, das bedeutet viel Eigenerfahrung mit dem komplexesten und kostspieligsten Teil im E-Auto. Die Firma verfügt über eine eigene Batterieherstellung und setzt auf eine starke vertikale Integration. So hat BYD fast die gesamte Lieferkette der Automobilherstellung integriert – zu den selbst produzierten Komponenten gehören neben Motoren, Getrieben, Steuer- und Bremssystemen und der gesamten Fahrzeugelektronik selbst Scheibenwischer, Sicherheitsgurte, Airbags und CD-Spieler. Andere chinesische Hersteller arbeiten dagegen mit Zulieferern, etwa mit deutschen Unternehmen wie ZF.
Die heutige Wettbewerbslandschaft in China zeigt ein breites Spektrum von klein und kostengünstig mit kurzer Reichweite bis zu sehr reichweitenstarken Luxus-SUVs. Experten erwarten, dass bis 2026 weltweit über 700 E-Automodelle aus China angeboten werden. Deutschland ist mit über 200 angebotenen E-Auto-Modellen Nummer 2 hinter China. Wichtiger Unterschied: Mehr als 60 Prozent aller in Europa angebotenen E-Autos sind SUVs, in China dagegen sind bereits deutlich mehr kleinere E-Autos verfügbar.
Der ÖPNV fährt elektrisch
Das Projekt der Elektrifizierung umfasst nicht nur den Individualverkehr, sondern auch Busse, Taxiflotten und Straßenbahnen. Beispielhaft ist die Pilotstadt und Tech-Metropole Shenzhen in Südchina. Shenzhen ist die erste Stadt weltweit, die ihren öffentlichen Nahverkehr ausschließlich elektrisch betreibt. Seit 2017 setzt Shenzhen im ÖPNV vollständig auf Elektrobusse (etwa 20.000). Im Jahr darauf wurden Taxis, Fahrdienste und Rettungswagen auf Elektroantrieb umgestellt (etwa 24.000). Hersteller dieser öffentlichen Flotten ist BYD, das in Shenzhen sein Headquarter hat. Auch autonomes Fahren und automatisierte Fahrsysteme sind hier wichtige Themen. U-Bahnen sind bereits größtenteils fahrerlos. 2022 hat Shenzhen das erste umfassende Regularium für vollautonomes Fahren in China verabschiedet – „The Intelligent Connected Vehicles Regulation“. Seitdem fahren in einigen Vierteln bereits vollautonome Taxis von Baidu („Apollo Go“). Baidu hat zuletzt auch Betriebslizenzen für den Betrieb in Wuhan, Chongqing und Peking erhalten. Dieses Jahr soll außerdem die erste Mini-Flotte von 20 vollautonomen Bussen auf die Straßen.
China dominiert den globalen Markt für Elektrobusse. Chinaweit entwickelt sich Geely zum stärksten Unternehmen in diesem Bereich und führt sowohl den Lkw- als auch den Busmarkt an. 2023 stiegen die Verkaufszahlen von Geely auf fast 75.000 Einheiten elektrifizierter Lkw und Busse, was einer Verdreifachung gegenüber der Chery Group entspricht – dem größten Konkurrenten. Das Wachstum mit Bussen mit alternativer Antriebstechnik ist bei Geely, Chery und Changan Automobile vor allem auf den Verkauf kleiner Elektrobusse zurückzuführen. Die Gesamtgröße des chinesischen Marktes für Busse mit alternativer Antriebstechnik lag im Jahr 2023 bei rund 160.000 Einheiten.
Die Revolution kam auf zwei Rädern
Die erste Massenanwendung von Elektromobilität fand in China bei Fahrrädern, Mopeds und Motorrädern statt. Einige größere Städte wie Peking, Schanghai und Shenzhen haben schon seit den frühen 2000er-Jahren begonnen, Benzin-Mopeds aus ihren Stadtzentren zu verbannen. Es ging dabei besonders um die Verbesserung der Luftqualität. Diese Maßnahmen wurden in den darauffolgenden Jahren erweitert, mittlerweile haben viele urbane Gebiete ein solches Verbot durchgesetzt. E-Mopeds sind in China ein sehr beliebtes Fortbewegungsmittel: gut für den Transport geeignet, weniger anstrengend als das Fahrrad und in der niedrigsten Klasse erfordern sie keinen Führerschein. Jahr für Jahr kommen in China etwa 40 Millionen neue Roller auf die Straßen. 80 Prozent davon werden elektrisch angetrieben. Dominante Marken wie Tailg, Yadea, Aima und Green Source verkauften 2023 zusammen über 48 Millionen Einheiten und machten damit über 80 Prozent des Marktes aus. Seit 1991 ist auch die Entwicklung von E-unterstützten Fahrrädern ein offizielles Ziel. Laut der CBA (China Bycicle Association) sind mittlerweile 700 Firmen aktiv, deren zehn größte mehr als die Hälfte der Produktion dominieren.
Markenvertrieb und Aftermarket kommen zusammen
Während in Deutschland der „typische“ Vertriebsweg das Autohaus am Stadtrand ist, sieht man in China sehr oft Showrooms der E-Auto-Hersteller mitten in den Innenstädten und Einkaufszentren. Der Vertrieb kommt also eher zum Käufer als umgekehrt. Premiummarken bieten auch neue Kombinationen aus Flagship-Store und Wellnessinsel an, wie beispielsweise das „Nio House“, ein „Community Space, der die Markenwelt erlebbar macht“. Dort haben Nio-Fahrzeugbesitzer exklusiven Zutritt, können Kaffee trinken, Veranstaltungen besuchen, es gibt Coworking- und Meetingräume und eine Kinderbetreuung. Nio kooperiert auch mit anderen Luxusmarken, die für Nio gestalteten Produkte werden in der Nio-App unter dem Label „Nio Life“ verkauft. Das Auto wird zum Teil eines Lifestyles. Der chinesische Name von Nio „蔚来“(wei lai) bedeutet wörtlich übersetzt „blauer Himmel kommt“ – als Anspielung auf die Lösung des Smog-Problems durch E-Mobilität.
Auch umfassende Service- und Reparaturangebote sind mit solchen Flagship-Stores verbunden, wie bei den BYD 4S-Stores, wo man entspannen kann, während das Auto repariert wird. 4S steht für „Sale, Spare parts, Service and Survey“ – Markenvertrieb und Aftermarket kommen in den 4S-Stores zusammen. Das 4S-Modell gibt es seit 1998 und es wird von vielen Herstellern genutzt. Parallel gibt es den IAM (Independent Aftermarket), der zu attraktiven Preisen unter anderem Autos pflegt, deren Garantie abgelaufen ist.
Der „Spaß am Selbstfahren“, der im Marketing in Europa und den USA wichtig ist, spielt in China keine so große Rolle. Da in Großstädten wie Schanghai und Peking häufig mit Fahrern gefahren wird und man ohnehin viel im Stau steht, ist den chinesischen Konsumenten eher Komfort im Auto wichtig, eine gutes Entertainmentsystem und guter Service. Auch neue Vertriebsmodelle werden von den Konsumenten gern ausprobiert. Etwa das von Geely angebotene schwedisch-chinesische Lynk & Co, das jüngere Kunden ansprechen will und Autos auch im Abo oder im Leasing anbietet. Der Vertrieb erfolgt in „Clubs“, wo es Coworking Spaces gibt, Kaffee getrunken werden kann und mitunter auch nachhaltige Kleidung verkauft wird.
Seit einigen Jahren gibt es bei Luxusgütern und in der Generation Z den Trend „Guochao“ (国潮). Der Begriff bedeutet so viel wie „nationale Welle“, man könnte auch „China Chic“ sagen. Junge Chinesen kaufen gern im Land hergestellte Produkte, wenn sie die nationale Identität verkörpern und traditionelle Kulturelemente in die Gestaltung einbeziehen. Bei den Autos repräsentiert das beispielsweise die Mittelklasse-Limousine BYD Han von 2020 – 汉/Han bezeichnet, abgeleitet vom Han-Kaiserreich, heute die größte Volksgruppe der Chinesen. Traditionelle Elemente bei diesem Modell sind die rote Farbe, eine „Drachengesicht“-Designsprache oder Anleihen an die dekorativen chinesischen Knoten in der Heckbeleuchtung. Chefdesigner bei BYD ist seit 2016 ein Deutscher, Wolfgang Egger, der vorher für Alfa Romeo, Lancia, VW und Audi gearbeitet hat.
Auto und Smartphone werden nahtlos verbunden
Chinesische Käufer wünschen sich autonome und intelligente Autos. Die Digitalisierung in China ist umfassend und die Menschen organisieren fast alle Aspekte ihres Lebens über das Smartphone. Neue technologische Möglichkeiten werden gerne genutzt, woraus eine entsprechende Nachfrage auch im Automobilbereich entsteht. „Die Erwartungen der chinesischen Kunden an ein Elektroauto sind ganz anders als im Rest der Welt“, erklärte Nissan-CEO Makoto Uchida im Mai auf dem „Future of the Car Summit“ der Financial Times. Partnerschaften mit Technologieunternehmen wie Alibaba, Baidu, Huawei und Tencent unterstützen chinesische Autobauer dabei, innovative Lösungen schneller und effektiver umzusetzen.
„Junge Menschen in China betrachten Elektroautos nicht mehr nur als Fahrzeuge, sondern wollen, dass sie wie Smartphones funktionieren.“
Die Vision ist die nahtlose Verbindung des E-Autos mit dem Smartphone. Große Telekommunikationsunternehmen wie Huawei und Xiaomi sind in den vergangenen Jahren ins Automobilgeschäft eingestiegen. Geely hat Anteile am Smartphone-Hersteller Meizu gekauft und dessen Software in die eigenen Autos installiert. Nio hat hingegen umgekehrt als E-Auto-Unternehmen ein eigenes Smartphone auf den Markt gebracht. Tech-Gigant Baidu, der den wichtigsten Kartendienst (analog zu Google Maps) in China anbietet, und Geely haben 2023 gemeinsam als Joint Venture die Premiummarke Ji Yue (极越) gegründet, die intelligente sportliche „Robocars“ auf den Markt bringt.
Chinas NEV-Entwicklungsplan bis 2035 fördert explizit die Entwicklung intelligenter und vernetzter Fahrzeugtechnologien. Im November 2023 hat die Regierung ein Pilotprogramm angekündigt, das mehr autonome Fahrzeuge auf die Straßen bringen und die Vermarktung dieser Technologie beschleunigen soll. Autos der Hersteller Xpeng, Huawei und Nio bieten zwar noch kein vollautonomes Fahren, aber bereits Fahrassistenzsysteme. Nun sollen Autos der Autonomiestufen 3 und 4 in speziell ausgewiesenen Regionen zugelassen werden, wenn die Hersteller bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Xpeng kündigte an, noch in 2024 4.000 neue Mitarbeiter einzustellen und 480 Millionen US-Dollar in künstliche Intelligenz zu investieren. Damit wolle das Unternehmen in der „blutigen See“ der Konkurrenz auf dem größten Automarkt der Welt überleben, wie es Xpeng CEO He Xiaopeng beschreibt. BYD, bisher in dem Bereich nicht führend, kündigte im Januar 2024 an, rund 14 Milliarden US-Dollar in KI-gestützte Funktionen für seine Fahrzeuge zu investieren, darunter eine verbesserte Spracherkennung und automatisches Parken.
Auf der Electric Vehicle Expo der Automechanika – EVA – in Halle 12.1 präsentieren sich chinesische Hersteller von Elektrofahrzeugen. Fachbesucher haben die Gelegenheit, die Hersteller kennenzulernen und Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten.
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