„Das Leben“, die 24-jährige Corinna macht eine kurze Pause, „das Leben ist von Natur aus zirkulär und zyklisch und geprägt von einem ständigen Wechsel zwischen Werden und Vergehen, Geboren werden und Sterben.“ Corinna ist Lehramtsanwärterin in München und versucht, im Rahmen der Berufsorientierung 15-jährigen Stadtteilschülern einen Eindruck zu vermitteln, wie sich ökologisches Denken auf die Produktion von Gütern beziehen ließe. „Diese Zirkularität macht uns deutlich“, fährt sie fort, „warum unser heutiges Wirtschaftssystem in so großem Konflikt mit unserem Planeten steht. Während die Natur in geschlossenen Kreisläufen harmoniert, strebt die Wirtschaft nach unendlichem Wachstum.“
„Alles beginnt mit einem Altteil“, so lautet ein ähnlich übergreifend gedachter Grundsatz des Europäischen Remanufacturing-Verbands APRA. Am Anfang steht also der „Core“, das gebrauchte Ersatz-oder Bauteil, das für die Wiederaufbereitung vorgesehen ist und dafür speziell identifiziert und geschützt wird. Der Verband APRA (Automotive Parts Remanufacturers Association) hat sich um die Entwicklung internationaler Standards und Sprachregelungen verdient gemacht für Betriebe, die sich in der komplexen, weltweiten Reman-Welt sicher bewegen wollen.
Ein Core ist kein Abfall oder Schrott, sondern verkörpert einen hohen Wert. Und wie man eine Kunststoffflasche nicht einfach wegwirft, werden auch Corinnas Schüler demnächst erfahren, dass Herstellung und Betrieb von beispielsweise Autos nicht in derart krassem Gegensatz zur Umwelt stehen müssen, wie das heute angenommen wird. An einem Mangel an wertvollen „Kernen“ wird es jedenfalls nicht scheitern.
Mehr als eine Million „Cores“ lagern in Nordeuropas größtem „Core Warehouse“ in Polen, das BORG Automotive Reman schon 2014 eröffnet hat. BORG bereitet in jedem Jahr herstellerübergreifend mehr als zwei Millionen Einheiten wieder auf – mit Produktionsstandorten in England, Polen, Spanien sowie Lagern in mehreren europäischen Ländern liefert sie unter vier Marken europaweit aus. BORG hat schon vor fast 50 Jahren mit Refabrikation begonnen, zu einer Zeit, als defekte Geräte noch als Schrott galten und zur Umweltbelastung wurden. In der Zwischenzeit erkennen immer mehr Automotive- und Zulieferunternehmen, dass im Remanufacturing ein großer Hebel liegt, mit dem Klimaschutz voranzukommen.
„Das Remanufacturing im Automotive Aftermarket ist Vorbild geworden für ein erfolgreiches und nachhaltiges Geschäftsmodell – auch für Geschäftsbereiche im Non-Automotive Bereich“, sagt Peter Bartel, Marketing-Chef bei Circular Economy Solutions GmbH (C-ECO). C-ECO berät Unternehmen, die ihre Kreislaufwirtschaftsaktivitäten im Automotive Aftermarket ausbauen wollen. „Viele Aspekte der Kreislaufwirtschaft sind technisch gelöst, es fehlt jedoch an etablierten Geschäftsmodellen.“
„Das Remanufacturing im Automotive Aftermarket ist Vorbild geworden für ein erfolgreiches und nachhaltiges Geschäftsmodell – auch für Geschäftsbereiche im Non-Automotive Bereich.“
Peter Bartel, Head of Marketing, Circular Economy Solutions GmbH
Remanufacturing ist ein wesentlicher Handlungsstrang der Circular Economy, die im Automotive immer mehr zum Thema wird. Mit ihr verbunden ist die Hoffnung für die Industrie, Emissionsziele wie die UN Sustainable Development Goals (SDGs) einhalten oder schneller erreichen zu können. „Je früher man mit Kreislauforientierung beginnt, desto eher wird man sich Vorteile erarbeiten – statt irgendwann Zertifikate kaufen zu müssen, die immer teurer werden“, ermuntert Stefan Caba vom Ingenieursdienstleister EDAG Engineering GmbH.
Reduction, Recycling und Re-use sind die drei Stufen der Kreislaufwirtschaft, an denen Caba die Beratung seiner Kunden ausrichtet. Und eventuell daran, was sie für die Realisierung von Kreislauffähigkeit investieren können. „Es ist langfristig günstiger, in nachhaltige Lösungen zu investieren, als später die die Emissionen auszugleichen.“, ist Caba optimistisch. In den Kreislaufstufen zwei und drei, Recycling und Re-use, ist Remanufacturing die am besten dokumentierte Nachhaltigkeitsdisziplin, die längst über standardisierte, industrielle Prozesse und solide internationale Geschäftsmodelle verfügt. Die Grundsätze lauten: Jedes wiederaufbereitete Teil erfüllt die Funktion im Vergleich zum Originalteil mindestens gleichwertig. Für jedes generalüberholte Teil gilt die gleiche Garantie wie für ein neues. Es ist als generalüberholtes Teil gekennzeichnet und der Wiederaufbereiter ist angegeben.
„Bei BORG Automotive Reman verkaufen wir die von uns überholten Einheiten gegen eine Kaution, die zurückerstattet wird, wenn Kunden ihre ausgetauschten Einheiten an uns zurücksenden“, berichtet Kasper Thomsen, CCO bei BORG Automotive A/S im dänischen Silkeborg, aus der Praxis. Wir haben ein Rückführungslogistiksystem implementiert, das unsere Kunden in ganz Europa effizient bedient.“
Um genügend Teile im Umlauf zu haben, ist in diesem Markt eine internationale Vernetzung unerlässlich. Thomsen: „Um unser Geschäft auszubauen, müssen wir ständig alte Einheiten – sogenannte Cores – zukaufen. Wir verfügen über ein Netzwerk in der Branche und über 200 aktive Core-Lieferanten – Demontagebetriebe, Reparaturwerkstätten und Großhändler. Mehr als 98 Prozent unserer Altteile werden in Europa eingekauft, was uns widerstandsfähiger macht gegen logistische Herausforderungen aus Asien.“
„Bei BORG Automotive Reman überholen wir Anlasser, Lichtmaschinen, Wechselstromkompressoren, Turbolader, Bremssättel, AGR-Ventile, Zahnstangen und Lenkpumpen“, macht es Thomsen ganz konkret. „Wir haben auch eine Auswahl an elektrischen Teilen, die wir wiederaufbereiten. Die meisten Materialien können wiederaufbereitet werden. Laut unseren Ökobilanzen (LCAs) werden zum Beispiel in einem Starter 95 Prozent des Materialgewichts wiederverwendet. Verschleißteile wie zum Beispiel Gummi nutzen sich ab und sind daher nicht für eine Wiederaufbereitung geeignet, die werden immer ausgetauscht.“ In der Logik der Circular Economy wäre von der Verwendung solcher Materialien schon bei den ersten Konstruktionsplänen Abstand zu nehmen.
„Laut unseren Ökobilanzen (LCAs) werden zum Beispiel in einem Starter 95 Prozent des Materialgewichts wiederverwendet.“
Kasper Thomsen, Chief Commercial Officer, BORG Automotive Group
„Die Wiederaufbereitung trägt wesentlich zu einer Kreislaufwirtschaft bei“, erzählt Thomsen „in der möglichst viel Material neues Leben erhält und so wenig wie möglich verschwendet wird.“ BORG veröffentlicht die Ökobilanzen für seine acht Reman-Produktgruppen im Internet. Thomsen: „Allein im Jahr 2023 führten unsere Kreislaufbemühungen zu 39.822 Tonnen CO2-Einsparungen, was einer Reduzierung der CO2-Emissionen um 74 Prozent im Vergleich zur Produktion neuer Teile entspricht.“ Dazu kommen im Durchschnitt ein 42 Prozent geringerer Energieverbrauch (MJ) und 70 Prozent weniger Verbrauch natürlicher Ressourcen (Sb-eq).“
Circular Economy heißt aber nicht nur, recycelte Materialien oder wiederaufbereitete Teile zu verwenden. „Man muss den Mut aufbringen, dem OEM zu sagen, dass ein Auto zwar mit dem bald vorgeschriebenen 25 Prozent Recycling-Anteil produziert werden kann – letztlich muss man aber auch schon heute die Kreislaufführung des Neufahrzeugs anstreben“, sagt Stefan Caba. Seine Expertise: Die Emissionswerte einzelner Bauteile schon in der Konzeptionsphase zu berechnen.
„Circular Economy heißt, im Voraus zu überlegen, was ich mit jedem Bauteil am Ende des Lebenszyklus machen kann. Schon in der Konzeptphase wird festgelegt, welche Emissionen erzeugt werden“, lautet Cabas Credo. Ein Verbrenner verursacht mit der Herstellung etwa ein Viertel der Emissionen – der Rest entsteht durch Verbrennen des Kraftstoffs. Das E-Auto hat einen etwas höheren CO2-Fußabdruck in der Produktion, kann aber nahezu klimaneutral betrieben werden. Bedeutet auf der Zeitschiene: Je länger es auf der Straße bleibt, desto geringerer wird der Fußabdruck pro gefahrenem Kilometer.
„Circular Economy heißt, im Voraus zu überlegen, was ich mit jedem Bauteil am Ende des Lebenszyklus machen kann. Schon in der Konzeptphase wird festgelegt, welche Emissionen erzeugt werden“
Stefan Caba , Leiter Innovationsfeld Nachhaltige Fahrzeugentwicklung, EDAG Group
Die Bewertung von Materialien ist ein ständiger Abgleich von Faktoren wie Footprint, Kosten, Gewicht, aber auch der Art der Verwendung. So kann es auch erfolgreich sein, Materialien, die leichter, aber zu teuer sind, über längere Nutzungszeiten einzusetzen. Im Projekt „FiberEUse“ wurde bei EDAG eine modulare CFK (Carbonfaserverstärkter Kunststoff)-Leichtbauplattform entwickelt, die theoretisch über sieben Fahrzeuggenerationen weiterverwendet werden kann. Denn der Vorteil „Leichtigkeit“ (auch bei schlechter CO2-Bilanz der in der Herstellung energieintensiven CFK-Materalien) „rechnet sich in diesem Fall in der Klimabilanz über langfristige Wiederverwendung“.
Im Prinzip müsse man Autos wie Flugzeuge bauen, sagt Caba. „Ein Auto hat auch deshalb eine schlechte Klimabilanz, weil es nach nur 4.000 Betriebsstunden verschrottet wird. Das leistet ein Flugzeug in einem Jahr. Für heutigen Leichtbau fährt ein Auto einfach viel zu wenig.“
Einer, der das mit dem doppelten Null-Emissions-Auto hinbekommen hat, ist der Dortmunder Ingenieur Sascha Dennis-Witte. Mit Studenten der FH Dortmund hat er den Prototypen Nuevo 35 gebaut, der sowohl in der Herstellung wie im Betrieb vorbildlich sauber ist. „Wir haben wirklich nur auf das Ziel geachtet, nicht auf die Kosten“, ist Witte realistisch. Das Ziel ist erreicht, freut sich der Ingenieur: „Seit 2020 gilt in Deutschland der Grenzwert von 95 Gramm CO2 pro Kilometer, und zwar allein auf die Fahrt bezogen. Der Wert von 35 Gramm CO2 pro Kilometer des Hybriden Nuevo 35 dagegen bezieht sich auf den gesamten Lebenszyklus, also inklusive Produktion des Fahrzeugs, des Stroms und Kraftstoffs und der Entsorgung.“
In der Batterie kommt der Hybrid ohne Seltene Erden aus, erzählt Witte stolz. Und statt der Primärmaterialien Aluminium und Stahl, die in der Regel einen weniger guten Footprint haben, kommt im Nuevo ein in einer Kooperation mit Thyssen Krupp entwickelter neuer, grüner Stahl zum Einsatz. Dieser würde, gibt Thyssen an, die Kosten eines Elektroautos nur um 57 Euro erhöhen – seine Klimabilanz dagegen um ein Vielfaches verbessern. Auf nach Frankfurt! Auf der Automechanika 2024 gibt’s den Nuevo 35 zum Probefahren.
Schlüsselqualifikationen für zukünftige Ingenieure
Von Luca Cibrario
Die Transformation in Richtung auf eine Kreislaufwirtschaft verlangt viel Expertise – und ein neues Denken, das bisherige Begrenzungen überwindet. Welcher Fokus dafür in der Ausbildung der zukünftigen Fachkräfte gesetzt werden muss, fasst Luca Cibrario auf Grund seiner Erfahrungen am Politecnico di Torino in Turin zusammen.
Die Ingenieure der Zukunft brauchen:
- Nachhaltigkeitskompetenz: Verständnis der Prinzipien der Nachhaltigkeit und deren Anwendung bei Design, Herstellung und Lebenszyklusmanagement von Produkten
- Systemdenken: die Fähigkeit, Probleme ganzheitlich anzugehen und dabei die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen technischer Entscheidungen zu berücksichtigen
- Innovation und Anpassungsfähigkeit: Kenntnisse in neuen Technologien wie KI, Robotik und Materialwissenschaften, kombiniert mit der Flexibilität, sich an sich schnell ändernde Branchenanforderungen anzupassen.
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