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Was macht der denn da? Kann ja nicht sein! Später wird der Radfahrer das Fahrverhalten des Transporters vor ihm als unberechenbar bezeichnen. „Der Wagen ist auf der linken Spur gefahren und die Blinker zeigten rechts an“, erinnert sich der Radfahrer, „er fuhr aber nicht rechts rüber, sondern hat immer wieder gebremst und die Fahrzeuge hinter sich aufgehalten.“
Der Radfahrer ist auch Reporter eines Podcast und sagte dann in seinem Bericht: „Am Ende blinkte er nach links und hielt rechts an. Das war schon seltsam. Ich weiß nicht, ob ich währenddessen oder erst nachher bemerkt habe, dass ‚Self Driving Vehicle‘ draufstand.“
David Gölnitz ist Sprecher des Technologieunternehmens MOIA, das seit November 2024 eine Flotte selbstfahrender Sammelshuttles für Erprobungsfahrten durch Hamburg fahren lässt. Die autonomen VW-Elektrobusse vom Typ ID. Buzz AD können auf Autonomie-Level 4 fahren in einem definierten, für die Software vorgesehenen Gebiet, durch eine 37 Quadratkilometer großes Testgebiet in den Stadtteilen Hamburg-Nord und Wandsbek. Jedoch, vor der Erteilung der Genehmigung für den Regelbetrieb, noch mit einem Sicherheitsfahrer an Bord.
Die Software lernt aus Fehlern

Auf die Story des Reporters reagiert Gölnitz gelassen. „Das kommt immer wieder vor“, sagt er, „und das ist ganz richtig so.“ Beim rechts Ranfahren liegt es oft an der durchgezogenen Mittellinie. „Eine Privatperson würde vielleicht gucken und die Linie überfahren. Ein autonomes Auto hält sich immer strikt an die Straßenverkehrsordnung.“ Es stellt eine Anfrage mit verschiedenen Handlungsoptionen an die Leitstelle, in der ein Mensch sitzt, der die Freigabe erteilen kann. Bis diese erteilt ist, geht das Fahrzeug in den „risikominimalen Zustand“, es hält an.
Der Fall kann auch eintreten, wenn die 13 Kameras, die die Umgebung in Echtzeit erfassen, schwer interpretierbare Situationen registrieren, erklärt Gölnitz: „Zum Beispiel auf eine rote Ampel flott zugehende Fußgänger, ohne Anzeichen, zu verlangsamen.“

„Es ist superwichtig, dass wir solche Fälle haben“, sagt der MOIA-Sprecher und bezieht sich dabei auf die algorithmische Logik des autonomen Fahrens, „je mehr Daten wir haben, desto schneller wird die Software besser reagieren können. Unsere Fahrzeuge stehen noch ganz am Beginn ihres Trainings.“ In der Theorie macht eine Software einen Fehler nur einmal. Dann hat sie gelernt. Sehr im Unterschied zum Menschen. Dabei sind reale Projekte ein entscheidender Faktor, um das autonome Fahren sicher auf die Straße zu bringen. Nur dort können Regularien angewendet und weiterentwickelt werden. Isolierte Tests auf Prüfgeländen reichen längst nicht mehr aus, um die Komplexität des Straßenverkehrs abzubilden. Auch Gesetzgebung und Genehmigungen schreiten deshalb nur durch praktische Erprobung voran. Sei es im ÖPNV, in der Logistik oder im städtischen Verkehr. Hamburg kann hier als Blaupause dienen, doch andere Städte haben wiederum andere Voraussetzungen. Entscheidend bleibt das Zusammenspiel aller Akteure – von Technologieanbietern über Behörden bis hin zu Mobilitätsdiensten.
„Und natürlich werden wir als Verkehrsteilnehmer nur akzeptiert“, sagt Gölnitz, „wenn wir uns in den Verkehrsfluss einfügen.“ Marktforschung und Akzeptanzstudien zu dem Hamburger Projekt seien noch in Arbeit, aber seit Projektbeginn im Jahr 2023 gäbe es nicht mehr als „ein Dutzend“ Rückmeldungen von verärgerten Autofahrern.

In Deutschland hat längst ein Städte-Wettbewerb begonnen: Darmstadt, Friedrichshafen, Ilmenau, Karlsruhe, Mannheim, Monheim am Rhein, München und Waiblingen haben Projekte gestartet. In Hamburg bündeln sich MOIA mit dem VW ID. Buzz AD und die Hochbahn mit Holon-Fahrzeugen unter dem Forschungsprojekt ALIKE.
Für MOIA-Sprecher Gölnitz ist der Öffentliche Personen- und Nahverkehr (ÖPNV) nur einer von mehreren Wegen, autonomes Fahren zu etablieren: „Wir passen uns an die Marktgegebenheiten an.“ Und er kündigt an, zusammen mit dem Partner Uber und der Volkswagen Group of America Ridepooling- oder Ridehailing-Systeme nach Nordamerika zu bringen. Der zunächst in Hamburg eher unauffällig gestartete Ride-Sharing-Anbieter wird damit – im Windschatten von VW – zum Player auf dem globalen Markt.
Zum autonomen MOIA war es nur ein kleiner Schritt

Die Hamburger sind stolz auf ihre Bronze-glänzenden Shuttles, die auf einem definierten und Daten-vermessenen Gebiet langfristig ohne Fahrer auskommen. Im Jahr 2027 soll ein Autonomie-Level-4-Regelbetrieb gestartet werden, zunächst für einen bestimmten Personenkreis, für den sich jeder bewerben kann.
Bis 2030 will man 10.000 autonome Shuttles auf den Straßen haben, gibt Hamburgs Verkehrssenator Anjes Tjarks als Ziel an. Einen „Kaskaden-Effekt“, also eine schnell wachsende Wirkung auf den Stadtverkehr, etwa durch bessere Erreichbarkeit von ÖPNV-Angeboten, glaubt die Stadt schon mit 2.000 autonomen Fahrzeugen erzielen zu können.

Durch die enge Kooperation von MOIA mit der Hochbahn und dem Verkehrsbetrieb HVV, ist die autonome Flotte in Hamburg ein solides Angebot für den ÖPNV. In Hamburg will der ÖPNV auch im Schienenverkehr, bei der S-Bahn, mit kürzeren, autonom fahrenden Zügen eine deutlich höhere Taktung erreichen.
Das autonome Fahren kommt zunächst vor allem in Kombination mit Sharing-Konzepten. Das MOIA-Projekt genießt den Vorteil, sich schon zuvor mit einem Fahrer-betriebenen Ride-Sharing-Angebot etabliert zu haben.
Die Mischform aus Bus und Taxi schafft ein dichteres öffentliches Netz, bindet Jugendliche, Erwachsene und zunehmend auch ländliche Gebiete ein, reduziert Unfälle und senkt die Zahl der Autos auf den Straßen. So entstehen mehr Platz und Lebensqualität in der Stadt, während leise, abgasfreie Fahrzeuge durch angepasste Streckenführung und höhere Auslastung zugleich energieeffizienter sind als Taxis. Es sind so viele Vorteile, dass sie schwer in eine Reihenfolge zu bekommen sind.
Autonomes Fahren wird ein globales Geschäft
Der Markt wächst rasant – getrieben von KI-Fortschritten und sinkenden Softwarekosten. Laut einer Goldman-Sachs-Studie von 2024 könnten bis 2030 weltweit mehrere Millionen autonome Fahrzeuge im Fahrgemeinschaftsverkehr unterwegs sein. Das entspräche einem Robotaxi-Markt von über 25 Milliarden Dollar, auch wenn das nur einen Bruchteil des globalen Fahrzeugbestands ausmacht.
Das Wachstum wirke auch in anderen Sektoren, so die Studie: „Die Beschleunigung der Verbreitung von autonomen Fahrzeugen könnte eine Reihe von Aktien in einer Reihe von Sektoren ankurbeln, darunter Chiphersteller, Mitfahrunternehmen, Entwickler von Technologien des autonomen Fahrens und Autohersteller.“
In den USA und China, wo man sich schon lange von Robotaxis chauffieren lassen kann, dominieren Tech-Konzerne wie Waymo, Uber oder Baidu den Markt.
Pragmatische Europäer brauchen kein Level 5

Das für das vollautomatisierte Fahren notwendige Level 5 ist nach europäischen Standards noch in weiter Ferne. Europa setzt auf Sicherheit vor Schnelligkeit und hat 2022 ein Regelwerk veröffentlicht, das den Regelbetrieb auf SAE-Level 4 ermöglicht. Während in den USA und anderen Ländern Fortschritte häufig über umfangreiche Straßentests erzielt werden, betont man hierzulande, dass autonome Systeme nicht nur gleichwertig, sondern besser sein müssen als menschliche Fahrer. Besonders entscheidend ist dabei die Komplexität der Verkehrssituationen.
Das vollautonome Fahren sieht David Gölnitz von MOIA als im Moment „nicht erstrebenswert“ an. „Mit Level 4 haben wir die Genehmigung für bestimmte Betriebsbereiche, wobei sich diese, wenn die Daten erfasst sind, beliebig ausdehnen lassen. Auch eine ganze Stadt kann ein Betriebsbereich werden. Der ideale Anwendungsfall des autonomen Fahrens ist Level 4 im Nahverkehr oder in geteilter Mobilität.“ Und die große Utopie der Branche, das geisterhafte Level 5? Gölnitz: „Das ist ein großer Schritt mit wenig Nutzen.“ Zur Begründung verweist er auf die aktuellen Rahmenbedingungen: Aus heutiger Sicht sind die Kosten für den autonomen Individualverkehr zu hoch – und der Nutzen für die Entspannung der Verkehrsbelastung in den Städten nicht gegeben. Staus und Parkplatzprobleme blieben erhalten.
Herausforderungen der Akzeptanz

Neben den technischen Hürden bleibt die Frage der Akzeptanz. Autonome Fahrzeuge versprechen zwar mehr Sicherheit und neue Mobilitätsmöglichkeiten, doch in der Bevölkerung herrscht weiterhin Zurückhaltung. Um Vertrauen aufzubauen, sind transparente Prüf- und Bewertungsverfahren notwendig, die nachvollziehbar machen, wie die Technologie funktioniert und welchen Nutzen sie bringt. Hinzu kommt, dass das Teilen von Fahrten mit fremden Personen nicht bei allen auf Zustimmung stößt. Zwar passen in einen MOIA bis zu sechs Personen, doch im Alltag fahren die Wagen laut Auswertung nicht immer voll besetzt. Damit sich das Konzept langfristig durchsetzen kann, muss es sich daher auch wirtschaftlich und preislich bewähren.